Die unsichtbare Last


Gestern Nacht lag ich noch eine Weile wach und grübelte über verschiedene Erlebnisse nach. Da kam mir auf einmal diese Geschichte. Während ich so dalag entfaltete sie sich vor meinen Augen. Also stand ich auf, um sie gleich niederzuschreiben, bevor wichtige Details verloren gingen…

Es war einmal ein sehr alter Mann, der trug einen großen Korb voller Steine auf seinem Rücken. Nur hatte er das über die Jahre vergessen und wunderte sich dauernd, warum er sich so mühsam durchs Leben schleppte.

Als er jung war, war der Korb noch leicht und hatte nur wenige Steine. Bereitwillig nahm er es in Kauf, wenn Leute ihm Steine hineinwarfen, wenn er sich mal wieder einen Spaß erlaubt hatte. So nannte er es zumindest, wenn er sich auf Kosten anderer amüsierte. Es war fast schon auf diese Steine aus, zeigte es ihm doch, dass etwas Besonderes passierte. Alles andere war ja langweilig. Und was kümmerten ihn schon diese Steine? Schließlich war er noch jung und konnte er doch damit auch seine schier unbändige Kraft beweisen.

Es passierte öfter, dass irgendwelche Memmen (so nannte er sie verächtlich) auf ihn zukamen, die ihm von ihrem Freund erzählten, der ihnen gerne ihre Steine abnehmen wollte. Für jeden der das tat, würde er eigene kleine Steinhäuser weit oben in den Bergen bauen, wo die Aussicht besonders schön sein sollte. Gerüchten zufolge sollte dieser Freund sogar unter der Last all der Steine tot zusammen gebrochen sein. „Wie sollte er dann aber Steinhäuser bauen können? Alles Ammenmärchen für Weicheier wie diese“, schnaubte er spottend.

So war er froh, dass er eines Tages auf eine Gruppe von Leuten stieß, die ihm erzählten dass die Steine in dem Korb auf seinem Rücken nur Erfindungen dieser Memmen waren, damit man ihnen die Geschichten von dem Steinhausbauer in den Bergen glauben würde. Einer von ihnen hatte sogar so etwas wie einen Zauberstab, den dieser über dem Korb auf seinem Rücken schwang. Und tatsächlich war auf einmal auch nichts mehr davon zu sehen! Wie fühlte er sich da erleichtert, dass er sich über die Steine keine Gedanken mehr machen brauchte. Die Welt lag ihm zu Füßen. Er konnte tun und lassen, was er wollte!

Die Jahre vergingen und unser Mann lebte sorglos weiter. Er nahm das Leben wie es kam. Ob er weitere Steine auf seinem Rücken sammelte, interessierte ihn reichlich wenig, er sah sie ja auch nicht mehr. Doch irgendwann merkte er, wie er langsam das Alter spürte. Er kam auch in immer höhere Regionen seines Landes und er merkte, wie der Weg langsam aber sicher auch immer steiler wurde. Er realisierte, dass er auch immer weniger zum Leben brauchte. Deshalb wunderte er sich, warum es immer noch so beschwerlich war, hatte er sich doch längst allen nutzlosen Dingen entsagt. Er war auch gar nicht mehr fähig, überflüssige Dinge mit sich zu tragen. Der Anstieg war einfach zu schwer. Konnte das wirklich schon die Bürde des Alters sein?

Als er eines Tages kurz durchschnaufte, um sich zu erholen (er musste das nun immer öfter tun), kam auf einmal ein Mann auf ihn zu, den er total schlecht einschätzen konnte. Er schien noch ziemlich jung zu sein, doch war seine Haut ziemlich wettergegerbt. Seine windzerzausten langen Haare und der stoppelige Dreitagebart erschwerten die Beurteilung des Alters. Die muskulösen Arme, die unter dem abgetragenen Arbeiterhemd hervorkamen, waren mit Narben übersät. So als ob er in einem Geröllfeld unter eine Steinlawine geraten und mitgerissen worden wäre.

Unser alter Mann trat beiseite, um dem Arbeiter vorbeizulassen, doch dieser blieb stehen. So als ob er sein Ziel erreicht hätte. „Andreas“ sprach der sehnige Mann unsern Alten an, so als würde er ihn kennen. „Darf ich dir etwas zeigen?“ „Kennen wir uns?“ fragte der Angesprochene verwirrt.
Doch der Gefragte reagierte nicht darauf und holte stattdessen einen einfachen Spiegel hervor, den er Andreas vors Gesicht hielt. Dieser wollte erst protestieren, aber als er gewahr wurde, was er darin sah, blieb ihm der Mund offen stehen und er sank andächtig auf die Knie.

„Dann gibt es dich also wirklich?“ stotterte er. „Dann hatten die Memm… die Jungs damals doch Recht?“ Schlagartig wurde ihm der Korb mit den Steinen wieder bewusst, die wie er das jetzt in dem Spiegelbild sah, hoch aufgestapelt über seinen Rücken ragten. „Deshalb habe ich all die Jahre so schwer zu schleppen gehabt! So schaffe ich das in meinem Alter nie bis zum Gipfel…“

„Darf ich sie dir abnehmen? Ich tue es gerne. Ich bin Jens, der Steinhausbauer. Ich habe auch ein Häuschen für dich bereit – wenn Du willst.“ Der alte Mann druckste peinlich berührt herum. „Willst du meine Steine denn noch? Schließlich hab ich all die Jahre nichts von dir wissen wollen und mich lustig über dich gemacht… Außerdem ist das hier doch alles meine Schuld.“

„Aber natürlich“ erwiderte Jens mit einem Lächeln. „Schließlich benötige ich doch deine Steine, damit das Häuschen so richtig deins wird. Wir wollen doch deine Last nicht verschwenden, sondern was richtig Persönliches für dich daraus bauen.“ Und damit nahm er dem verdutzen Alten den riesigen Korb ab, er war erstaunt mit welcher Freude und Leichtigkeit Jens das tat.

„Wenn du willst, trage ich auch dich noch den Rest des Aufstiegs. Ich denke, so kommen wir schneller voran. Ich habe ja schon so lange auf dich gewartet!“ Andreas wusste gar nicht wie im geschieht. Er hätte sich nie vorstellen können, dass er einmal noch so glücklich werden konnte. Stillschweigend willigte er ein. In der Ferne konnte er auf einmal eine hübsche Siedlung herrlicher Steinhäuser sehen, die hinter etlichen Tannenwipfeln hervorlugten. Darüber konnte er sich gar nicht mehr groß Gedanken machen, denn seine Augen waren ihm vor Müdigkeit bereits zugefallen. Er hatte gar nicht bemerkt, wie anstrengend die vergangene Reise gewesen war. Und jetzt wo er die große Last losgeworden war, konnte er sich auch fallen lassen. Er fühlte sich sicher in den großen, starken Armen von Jens, der ihn mit sicheren Schritten zu der Steinhaussiedlung trug.

© Copyright 22.11.2011 by Jocky.de

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